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Leseprobe
Ich weiß noch gut, wie das war, bevor es Penicillin
gab. Als ich Medizinstudent war, am Ende des Zweiten Weltkriegs,
stand Penicillin noch nicht in großem Umfang für
die Zivilbevölkerung zur Verfügung, und ich sah,
wie sich jeden Winter die Stationen des New Yorker Bellevue-
Krankenhauses bis zum Bersten mit Patienten füllten.
Bellevue war so etwas wie eine eigene byzantinische Stadt,
die sich über vier Blocks erstreckte, und ihre übelriechenden,
altmodischen, seltsam verwinkelt zusammengedrängten Gebäude
waren untereinander durch ein System von unterirdischen Maulwurfsgängen
verbunden.
Im New York der Kriegsjahre, das von Arbeitern, Seeleuten,
Soldaten, Betrunkenen, Flüchtlingen mit ihren aus allen
vier Weltgegenden eingeschleppten Krankheiten überquoll,
war Bellevue womöglich der beste Ort, um eine umfassende
medizinische Ausbildung zu bekommen. Nach seinen Statuten
durfte, ohne Rücksicht auf den Grad der Belegung, kein
Patient, der eine Krankenhausbehandlung brauchte, abgewiesen
werden. Infolge dessen stellte man die Betten so dicht wie
möglich zusammen, zuerst in den Mittelgängen und,
wenn diese voll waren, auch draußen in den Huren. Die
Station wurde erst geschlossen, wenn es buchstäblich
nicht mehr möglich war, ein Bett aus dem Fahrstuhl zu
bekommen.
Die meisten dieser Patienten hatten lobuläre (durch Pneumokokken
hervorgerufene) Pneumonie. Sie entwickelte sich schnell; die
Bakterien, die sich ungehindert vermehren konnten, gingen
von der Lunge in die Blutbahn über, und drei bis fünf
Tage, nach dem Auftreten des ersten Symptoms kam die Krise.
Das Fieber stieg auf über 40', und das Delirium setzte
ein. Zu diesem Zeitpunkt gab es zwei Anzeichen, an die wir
uns halten konnten: blieb die Haut heiß und trocken,
starb der Patient; schwitzte er, dann kam er durch. Sulfonamide
halfen zwar oft bei den leichteren Pneumonien, aber bei schweren
lobulären Pneumonien hing der Ausgang immer noch ausschließlich
von dem Kampf zwischen der Infektion und der körpereigenen
Widerstandskraft des Patienten ab. Ich, der ich so sehr auf
meine neu erworbenen medizinischen Kenntnisse vertraut hatte,
musste entsetzt feststellen, dass wir gegen diese Infektion
völlig machtlos waren.
Wer es nicht selbst miterlebt hat, kann sich nur schwer den
Umschwung vorstellen, der mir dem Penicillin kam. Eine Krankheit
mit einer Sterblichkeitsrate von fast 50%, die Jahr für
Jahr annähernd 100.000 Amerikaner das Leben kostete,
die Reich und Arm, Alt und Jung gleichermaßen traf,
und gegen die wir keine Waffe hatten, ließ sich plötzlich
in ein paar Stunden mit einer Prise von einem Weißen
Pulver unfehlbar heilen. Die meisten Ärzte, die nach
1950 ausgebildet wurden, haben nie eine Pneumokokken-Pneumonie
im kritischen Stadium gesehen.
Die Einführung des Penicillin hatte tief greifende Auswirkungen
auf die medizinische Praxis. Aber noch größer waren
die Auswirkungen auf die Philosophie der Medizin. Als Alexander
Fleming 1928 auffiel, dass seine Bakterienkulturen, durch
den zufälligen Befall durch den Schimmel Penicillium
notatum getötet wurden, hatte er damit die krönende
Entdeckung der wissenschaftlichen Medizin gemacht. Die großen
Seuchen waren durch Bakteriologie und Hygiene längst
überwunden. Nun besiegten Penicillin und die darauf folgenden
Antibiotika den Rest der winzigen, unsichtbaren Räuber.
Die Medikamente brachten auch einen Wandel in der Medizin
zum Abschluss, der sich seit dem 19. Jahrhundert stetig verstärkt
hatte. Vor dieser Zeit war die Medizin eine Kunst gewesen.
Das Meisterwerk - eine Heilung - gelang, wenn sich der Wille
des Patienten mit der Intuition des Arztes verband und mit
dem Geschick, mit welchem dieser die durch Jahrtausende sorgfältigen
Tastens durch Versuch und Irrtum gefundenen Heilmittel einsetzte.
In den letzten zwei Jahrhunderten ist die Medizin immer mehr
zur Wissenschaft geworden, oder besser gesagt, zur Anwendung
einer bestimmten Wissenschaft, der Biochemie.
Die medizinischen Techniken mussten sich im Lauf der Zeit
ebenso sehr an den jeweils geltenden Vorstellungen der Biochemie
wie an ihren empirischen Ergebnissen messen lassen. Techniken,
die diesen chemischen Vorstellungen nicht entsprachen, wurden
- selbst wenn sie offenbar funktionierten -, als pseudowissenschaftlich
oder regelrecht betrügerisch fallengelassen.
Gleichzeitig hat es dieser Prozess mit sich gebracht, dass
das Leben selbst als rein chemisches Phänomen definiert
wurde. Die Versuche, eine Seele, einen Lebensfunken, ein subtiles
Etwas, durch das sich das Lebendige vom Nichtlebendigen unterscheiden
würde, waren fehlgeschlagen. Je mehr wir über kaleidoskopische
Aktivität im Innern der Zelle lernten, desto mehr sahen
wir das Leben als eine Ansammlung chemischer Reaktionen, von
aberwitziger Komplexität zwar, aber doch im Wesen nicht
verschieden von den einfacheren Reaktionen, die sieh in jedem
Schullabor produzieren lassen. Da erschien es nur folgerichtig,
anzunehmen, dass die Mängel unseres chemischen Organismus
am bestem durch das passende chemische Gegenmittel zu heilen
waren, gerade so wie Penicillin die bakteriellen Eindringlinge
auslöschte, ohne den menschlichen Zellen zu schaden.
Ein paar Jahre später schien die Entschlüsselung
des DNS-Codes einen so sicheren Beweis für die chemische
Basis des Lebens zu liefern, dass die Doppelhelix zu einem
der zwingendsten Symbole unserer Zeit wurde. Hier schien endgültig
der Beweis geglückt, dass unsere Evolution einzig durch
4 Milliarden Jahre zufälliger molekularer Begegnungen
verursacht wurde, unterstützt durch kein Leitprinzip
als die unveränderlichen Eigenschaften der Atome selbst.
Auf unsere Lebensphilosophie hatte der Erfolg der chemischen
Medizin vor allem eine Auswirkung: wir glauben fest daran:
Heilung ist Reparatur durch Technologie. Das Medikament wurde
zur besten oder allein gültigen Behandlungsmethode für
alle Leiden. Vorbeugung, Ernährung, Bewegung, Lebensstil,
die körperliche und geistige Einmaligkeit des Patienten,
Schadstoffe in der Umwelt - all das wurde weggewischt. Viele
Jahre sind inzwischen verstrichen, Millionen Dollar ausgegeben
- mit mageren Ergebnissen -, aber immer noch nimmt man an,
dass die Heilung des Krebses von einer Chemikalie kommen wird,
die bösartige Zellen tötet, ohne die gesunden zu
schädigen. Die Chirurgen wurden immer geschickter darin,
körperliche Strukturen zu reparieren oder sie durch künstliche
Teile zu ersetzen, und damit wurde in das technologische Credo
der Artikel aufgenommen, dass eine transplantierte Niere,
eine Herzklappe aus Plastik oder ein Hüftgelenk aus rostfreien
Stahl plus Teflon genau so gut ist wie das Original - oder
besser, weil es sich nicht so schnell abnutzt. So führte
der Rausch der Begeisterung über das Penicillin ganz
natürlich zu der Vorstellung vom bionischen Menschen.
Wenn der Mensch nichts weiter ist als eine chemische Maschine,
dann ist der ultimative Mensch ein Roboter. |
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